Tourentest BMW R 1250 RS – die GS für die Straße (2024)

Sporttourer: ein Motorradsegment, das ab den späten 80er-Jahren im Wesentlichen von der Honda VFR 750 und deren Nachfolgemodellen initiiert wurde. Kennzeichen: Motor mit sportlichen Genen, dazu ein Fahrwerk, das sich auch bei einer schnellen Runde auf dem klassischen Nürburgring bewährt. Außerdem wichtig: eine relativ entspannte Sitzhaltung für den Fahrer, mit Lenkergriffen über der oberen Gabelbrücke und eine Verkleidung, die Fahrer und Beifahrer einen

dezenten Wind- und Wetterschutz bietet. Und natürlich sollte es auch Möglichkeiten zum Gepäcktransport geben.
Ein ideales Motorrad also sowohl für die sportliche Runde auf der Heimstrecke als auch für die große Tour zu zweit, sollte man meinen. Andere Hersteller versuchten sich gegen Ende der 90er-Jahre an diesem Konzept, man denke nur an Ducati ST 3 und 4, Aprilia Futura 1000, Suzuki TL-S oder Honda VTR. Aber große Verkaufsschlager wurden sie alle nicht, da sie durch die Kombination der Eigenschaften sowohl von Sportbikes als auch von Tourenmaschinen weder im einen noch im anderen Segment wirklich brillierten.
Dann definierten Adventurebikes, die vom technischen Fortschritt in der Reifen- und Fahrwerksentwicklung besonders profitierten, die perfekte Reisemaschine neu. Neben sportlichen Fahrleistungen und ausgeprägtem Langstreckenkomfort kamen nun noch die Offroadeigenschaften hinzu. Der Markt für hochbeinige und verkleidete Reisemaschinen mit Stollenreifen boomt nach wie vor, in Urlaubsregionen wie den Alpen, Südfrankreich oder Italien begegnet man heute überwiegend Adventurebikes auf dem großen Trip. Eines Tages begannen die Hersteller dann noch, 17-Zoll-Räder mit Straßenreifen bei den Reiseenduros zu montieren, damit war die neue Spezies Sport-Adventurebikes geboren.

„RS“: Rennsport oder Road/Sport?

Deshalb steht die R 1250 RS im Portfolio der wassergekühlten Boxermodelle von BMW neben GS, GS ADV, dem Luxustourer RT und dem Roadster vielleicht etwas auf verlorenem Posten, könnte man meinen. Immerhin verkauften sich 2022 allein in Deutschland 732 Exemplare der Reisemaschine (zum Vergleich: Roadster R: 907, S 1000 XR: 967, GS: 8528 Exemplare). Um herauszufinden, was sie kann und für wen sie gedacht ist, haben wir sie für einen Tourentest über 2000 km zwischen Weserbergland, Sauerland und Thüringer Wald engagiert.
2015 kam die RS als 1200er auf den Markt, für die Saison 2019 bekam sie als letztes Modell der Baureihe das Update mit dem neuen ShiftCam-Motor mit zusätzlichen 84 ccm Hubraum. Außerdem wurden bei der Modellpflege die obere Verkleidung neu gestaltet, der Scheinwerfer von Halogen auf LED umgestellt und das neue Vollfarbdisplay mit 6,5 Zoll im co*ckpit installiert.
Für das Modelljahr 2023 wurden einige Serienumfänge ergänzt: Die Dynamic Traction Control (DTC) und der neue Fahrmodus „ECO“ für benzinsparende Motorsteuerung kamen hinzu. Der Fahrmodus Pro mit persönlicher Kalibrierung der Eigenschaften sowie Motorschleppmomentregelung (MSR) ist eine Sonderausstattung. Die Regelcharakteristik des teilintegralen ABS Pro ist ab jetzt an den jeweiligen Fahrmodus angepasst und der dynamische Bremsassistent DBC (Dynamic Brake Control) unterstützt den Fahrer zusätzlich bei Notbremsmanövern. Für mehr Komfort sind getrennt steuerbare Sitzheizungen sowie ein etwas breiterer und höherer Rohrlenker als Sonderausstattung verfügbar. Die Verarbeitung der RS präsentiert sich blitzsauber: feine Passungen der Karosserieteile, dazu wertige Verschraubungen, Lackierungen und Schweißnähte. Als eine geballte Ladung von Premiumtechnik mit nobler Verarbeitung beeindruckt die BMW schon im Stand nachhaltig, an der ganzen Maschine gibt es keine Stelle, wo improvisiert wurde. Besonders der Blick aufs co*ckpit mit sauberer Gestaltung der Kunststoffteile und wenig Verschraubungen ist ein Genuss. Mit einem fahrfertigen Gewicht von 243 kg (d. h. mit 16,2 Litern Benzin im 18-Liter-Tank) ist sie nicht gerade leicht geraten, aber bereits beim Abladen vom Lkw überrascht sie durch eine frappierende Handlichkeit. Kleines Detail für Technikfetischisten am Rande: die unbeladene Maschine lässt sich durch leichtes Kippen auf die linke Seite des Hauptständers im Stand um ihre eigene Hochachse drehen, ein Zeichen für die perfekte Platzierung des Ständers direkt unter dem Schwerpunkt der BMW.
Die 82 cm hohe Serien-Sitzbank ist angenehm gepolstert, für meine 175 cm Körpergröße ist aber der Abstand zu den Fußrasten zu gering und die Knie sind ziemlich stark gebeugt (es gibt alternative Sitzbänke von 76 bis 84 cm Höhe). Deshalb der Ratschlag: unbedingt ausgiebig Probe sitzen vor dem Kauf und eventuell die höhere Variante wählen. Die niedrige Version der Alu-Lenkerbrücke hingegen passt relativ gut, lediglich der Tankrucksack streckt die Arme etwas, alternativ gibt es einen Rohrlenker, der etwas höher baut.

In der RS wird der Motor zum Sahnestück

Das Startverhalten des ShiftCam-Motors ist tadellos, mit einem kurzen Bellen macht der Boxer kurz auf sich aufmerksam, um dann auf einem nachbarschaftsfreundlichen Standgasniveau zu schnurren. Die seidenweiche Kupplung vermittelt gemeinsam mit dem leichtgängigen Gasgriff einen wohligen Kontakt zur Maschine. Die Gänge rasten präzise ein und der Powerboxer mit 136 PS Spitzenleistung bei 7.750 U/min sowie 143 Nm Drehmoment bei 6.250 U/min setzt sich schon bei Standgas sanft in Bewegung. Wer beim kurzen Stopp mal vergessen haben sollte, runterzuschalten, wird überrascht sein, wie leicht sich die RS im zweiten oder im dritten Gang anfahren lässt. Der laufruhige Motor fasziniert mit einem immens druckvollen Antritt und schiebt die Maschine ab knapp über Leerlaufdrehzahl vehement nach vorn. Dabei klappert und wackelt nichts. Das Fahrwerk gibt sich gelassen und zieht völlig unbeeindruckt die Spur – im Gegensatz zur GS, bei der konstruktionsbedingt durch längere Federwege und Stollenreifen bei voller Beschleunigung etwas Bewegung ins Fahrwerk kommt. Beim sportlichen Touren fährt man den Boxer meistens bei Drehzahlen knapp ober- oder unterhalb von 4.000 U/min, was durch die größer gezeigte Ziffer „4“ im Display veranschaulicht wird, mehr ist kaum nötig. Wenn man dann auf einer Geraden den Motor drehen lässt, ändert er sein Timbre und verwandelt sich fast in einen Feuer speienden Drachen, der ungezähmt bis zum Drehzahlbegrenzer bei 9.000 U/min nach vorn stürmt. Ähnliche Erfahrungen bescherte auch die neue Moto Guzzi Mandello V100: Großvolumige Zweizylinder sind heute keine gemütlichen Antriebe mehr, nur mit Drehmoment aus dem Keller, sondern extrem polyvalente Powerpacks, die über den gesamten Drehzahlbereich Druck liefern. Dabei kann man innerorts immer noch leise im großen Gang fahren oder Kehren im dritten Gang bewältigen.
Mit keiner anderen BMW lässt sich die Performance dieses Hammer-Motors so gut auf die Straße bringen und nutzen wie bei der RS. Das liegt an der kompakteren Bauweise der Maschine im Vergleich zu GS und RT. Man ist näher am Asphalt und weniger dynamischen Radlastverteilungen ausgesetzt. Dann trägt noch die sportliche Ergonomie mit relativ niedrigem Lenker zu einem besseren Gefühl für die Maschine bei, denn durch die Stellung der Arme bekommt man einfach präzisere Rückmeldungen vom Vorderrad. Die Zeiten des Telelever bei sportlichen Straßen-BMWs sind vorbei und man kann den Anpressdruck des Vorderreifens auf die Straße auch in Funktion der Bremskraft nun genau spüren. Glücklicherweise sorgt die Weiterentwicklung der Federungstechnik inzwischen dafür, dass übermäßiges Eintauchen der Front bei sportlicher Fahrweise und Bremsung Geschichte ist.

Wenn man viel GS gefahren ist und dann auf die RS umsteigt, hat man wirklich das Gefühl, im Tiefflug unterwegs zu sein, dabei verhält sich die Sport-BMW mit den Metzeler-Roadtec-01-Reifen immer und unter allen Betriebszuständen absolut vorhersehbar. Auf endlosen Kurvenstrecken wie im Sauerland kleben die Gummis förmlich auf dem Asphalt und jede einzelne Kurve wird mit messerscharfer Präzision gezeichnet. Der Rhythmus steigt, das Vertrauen auch und man wünscht sich ein nicht enden wollendes Fahren in dieser fast schwerelosen Blase. Die Bremsen können bis zum Scheitelpunkt der Kurve oder darüber hinaus gehalten werden, es gibt kein Aufstellmoment und es muss nicht großartig am Lenker gegengehalten werden. Egal in welchem Fahrzustand – mit Gas oder Bremse –, die Maschine bleibt völlig neutral und saugt sich in die Kurven rein, sauber und präzise bewältigt sie Schräglagen und Wechsel, ohne kippelig zu wirken, sowohl solo als auch beladen mit Gepäck.
Sollte es dennoch mal Kurskorrekturen bedürfen, gehen diese kinderleicht von der Hand, die RS paart frappierende Agilität mit perfekter Stabilität.

Eine perfekte Kombination von Sport- und Toureneigenschaften

UFF! Und dann kommt man aus dem Kurvengewühl raus auf eine längere Gerade, atmet tief durch, legt den Tempomaten ein, streckt den Rücken und genießt die Aussicht. Dann wird die RS zur RT, zum perfekten Tourenbike, bevor das nächste Straßenschild eine Kurvenstrecke ankündigt und man voller Freude wieder den Stier bei den Hörnern packt, um beim Spiel mit der hervorragend zu dosierenden Teilintegral-Bremsanlage und dem Gasgriff durch die nächste Kurvenkombination zu wuseln.
Wenn man nach so einer langen 300-km-Tagesetappe und Kurvenorgie am nächsten Tag beim Frühstück einen leichten Muskelkater in den Schultern spürt, dann weiß man, dass draußen ein Topmotorrad auf einen wartet und man kann es kaum erwarten, die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Aber es soll hier ja nicht nur ums sportliche Fahren, sondern auch um die Touringqualitäten gehen, welche die RS ohne Zweifel hat. Da wäre zum einen der überragende Sitzkomfort: Schon die Seriensitzbank bietet tolle Bequemlichkeit, selbst nach 6–7 Stunden täglich im Sattel entlässt einen die BMW am Abend ohne Schmerzen oder Zwicken. Gleiches gilt für die Hände, die auch nach einer langen Tagestour nicht kribbeln. Die Verkleidung bietet einen guten Wind- und Wetterschutz und die Abrisskante auf der Scheibe leitet Regentropfen wirkungsvoll zur Seite ab. Nicht ganz überzeugen konnten hingegen die Turbulenzen, die sich in der hohen Scheibenposition lautstark am Helm bemerkbar machten. Deshalb passte für den Autor, trotz des leisen Shoei-GT-Air-II-Helms, die niedrige Position am besten.
Der Windschild lässt sich auch während der Fahrt einhändig verstellen.
Die Testmaschine war mit Kunststoffkoffern mit jeweils 31 Litern Volumen und einem Tankrucksack ausgestattet. Die Koffer hängen an einem Metallbügel und haben einen am Innenteil fixierten Boden, der verhindert, dass ein Teil des Inhalts beim Öffnen im Deckel verbleibt. Auf den ersten Blick erscheint dies eine sinnvolle Lösung, die aber auf Dauer nicht voll überzeugen kann. Ein zweiter Abspanngurt im Deckel würde die Gepäckunterbringung erleichtern. Übrigens benötigt man zum Öffnen der Koffer immer zwei Hände, weil sich der Deckel nach Betätigung der Lasche nicht von selbst bewegt. Wenn man am Morgen mit vollen Armen aus dem Hotel kommt, muss der ganze Kram erst einmal abgelegt werden, um die Koffer zu öffnen.

Der wasserdichte Tankrucksack lässt sich über einen Reißverschluss erweitern und trägt auf der Oberseite ein kleines Fach fürs Handy ohne wasserdichten Reißverschluss sowie eine Kartentasche, die von der Innenseite aus belegt wird. Die Klarsichtfolie des Kartenfachs ist sehr rutschfest und klebrig, sodass es äußerst schwierig ist, eine große Karte glatt einzuschieben. Der Tankrucksack wird über drei Schnallen am Motorrad befestigt und könnte eine rutschfeste Unterlage vertragen, da er immer wieder seitlich vom Tank rutscht.
Auch bei voller Beladung läuft die BMW RS (getestet ohne Sozius) auf der Autobahn mit enormer Stabilität bis zur Spitzengeschwindigkeit zwischen 220 und 230 km/h geradeaus: Brückenabsätze, Bodenwellen, schnelle Kurven oder der Windschatten von Lkw lassen die Maschine völlig unbeeindruckt.
Der Durchschnittsverbrauch betrug auf der rund 2.000 km langen, sportlich gefahrenen Landstraßentour knapp unter 5,2 Liter pro 100 Kilometer. Das garantiert bei dem Tankvolumen von 18 Litern eine Reichweite von über 300 Kilometern. Die Keyless-Ride-Funktion der Testmaschine integriert den Tankdeckel und die Entlüftung des Tanks und ist perfekt umgesetzt. Beim Stopp an der Tankstelle geht das randvolle Auffüllen zügig.

Alltagstauglich

Während der Erstellung einer Motorrad-Reisereportage werden Maschinen etwas anders genutzt als von den meisten Kunden: Für Fotosessions müssen dutzende Male am Tag mehrere Einstellungen und Vorbeifahrten geprobt werden. Dabei muss zigmal im laufenden Verkehr auf der Straße umgedreht werden. Dann wird die Maschine geschoben, ausgerichtet oder gedreht, dazwischen immer wieder Helm ab und auf … ein echter Knochenjob, bei dem man es als One-Man-Show schätzt, wenn ein Motorrad gut durchdacht ist und eine einfache Bedienung sowie Handlichkeit, einen geringen Wendekreis und eine zuverlässige Funktion garantiert. Und genau dort hat die BMW R 1250 RS abermals richtig Punkte gemacht: Bis heute hat keine Maschine, die solche Fahrleistungen in Verbindung mit einem überragenden Fahrwerk und einem betankten Gesamtgewicht nahe an 250 kg bietet, eine solche Leichtigkeit des Seins geboten.

Fazit

In dem sportlichen Straßenableger der Boxerfamile kommt der ShiftCam-Motor erst richtig zur Geltung und kann sein Potenzial voll ausspielen. Motorleistung, Fahrwerk und Komfort harmonieren perfekt und gehören zum Besten, was heute für die Straße angeboten wird, dazu kommt ein noch angemessener Benzinverbrauch.
Die R 1250 RS bietet sich an für Leute, die gerne zu zweit längere Wochenendtouren fahren und auch eine schnelle Runde mit sportlichem Akzent nicht verschmähen, sie kann beides hervorragend.
Wenn ich als Motorradkurier in einer Großstadt arbeiten müsste, dann fiele meine Wahl mit Sicherheit auf die R 1250 RS, der man wegen ihrer Vielseitigkeit und Alltagstauglichkeit guten Gewissens den Titel „Die GS für die Straße“ verleihen kann! Da geht auch der Grundpreis von 15.990,-- Euro in Ordnung. Zur Wahl stehen die Farben: Weiß, Triple Black und Sport.

Pro

  • leistungs- und drehmomentstarker Motor
  • präzises Fahrwerk
  • Komfort
  • ziviles Geräuschniveau
  • gutes TFT-Display

Contra

  • Luftwirbel am Helm
  • ungenügende Hinterradabdeckung
  • Fehlalarm Ecall-System
  • etwas unsymmetrische Fußstellung
  • schlichtes Design der Frontpartie
Tourentest BMW R 1250 RS – die GS für die Straße (2024)

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